In freiem Fall – wie lange noch?

Die Absage der Gala der Staatlichen Ballettschule Berlin hat tanznetz zum Anlass genommen, die aktuelle Situation der Ausbildungsstätte zu hinterfragen. „Dass aus der aktuellen Situation Produktivkräfte entwachsen“ könnten, bezweifelt der Autor des Beitrags vom 26.03.2024. Torben Ibs äußert sich jedoch auch hoffnungsvoll, dass Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch mit ihrem Einsatz „den gordischen Knoten“ durchschlagen könnte.

Konrad Hirsch, Sprecher von „Save the Dance“, hat den Beitrag ausführlich kommentiert, um Hintergründe und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Hier sein Text:


Der Absturz in die Mittelmäßigkeit, wie Torben Ibs prophezeit, droht nicht. Die Staatliche Ballettschule Berlin befindet sich in freiem Fall.

Nach Denunzierungen, absurder Skandalberichterstattung in den Medien und einem erschreckend inkompetenten Umgang der Verantwortlichen bei der Bewältigung einer angeblichen Krise hat die Schule in den letzten Jahren ihre Alleinstellungsmerkmale und ihr internationales Renommee verloren. Das ist tragisch, da sich diese Institution bis vor vier Jahren hervorragend entwickelte: 2010 wurde ein Neubau mit modernen Tanzsälen und einer Fläche von 2500 Quadratmetern eröffnet.

Von „einer guten Investition des Landes Berlin in die Zukunft“ war die Rede. An dieser Schule konnte man Abitur machen, eine Berufsausbildung als Tänzer/in abschließen und gleichzeitig mit einem Hochschulzeugnis einen Bachelor of Arts erhalten. Dieses Angebot war weltweit einmalig. Es lockte über 300 Schülerinnen und Schüler aus 27 Nationen nach Berlin. Regelmäßig war die Staatliche Ballettschule Berlin das berufliche Gymnasium mit den besten Abiturzeugnissen in der Bundeshauptstadt. Europaweit war die Staatliche Ballettschule die einzige Ausbildungsinstitution mit eigener Juniorcompagnie, weil „Bühnenerfahrung der entscheidende Schlüssel für einen erfolgreichen Berufseinstieg in den Bühnentanz ist“, sagte die damals amtierende Bildungssenatorin im März 2017 in einem Statement.

„Die Tänzerinnen und Tänzer werden auf höchstem Niveau ihr Können bundesweit und international präsentieren und stehen damit auch repräsentativ für die Kreativmetropole Berlin“, betonte die Senatorin einst stolz, wenn sie über das inzwischen abgewickelte Landesjugendballett sprach. Die Staatliche Ballettschule Berlin zählte zu den „Big five“ der wichtigsten Ausbildungsstätten für Tanz in Deutschland und rangierte im weltweiten Vergleich an der Spitze. Wer hier ausgebildet wurde, war auf das anspruchsvolle Leben als Tänzer auf internationalem Niveau vorbereitet, hatte Partnerschaft, Zugehörigkeit und Leistungsbereitschaft erfahren, empfand Gegenwind, Konkurrenzverhalten und Konfliktsituationen als motivierende Herausforderung.

Was dann ab Januar 2020 geschah, bezeichnet die Journalistin Birgit Walter nach umfassender Recherche als Werk von Denunziantinnen, die ein anonymes Dossier über angebliche Missstände in der Staatlichen Ballettschule Berlin in Umlauf gebracht hatten. Birgit Walters ausführliche Bilanz eines Skandals“ war am 31. Januar 2024 auf Seite 3 der Berliner Zeitung zu lesen. Sie beschreibt dort, dass diesen Skandal, den Vertreter anderer Medien in verantwortungsloser Gier hochputschten, in Wahrheit nicht die Ballettschule, sondern die Politik lieferte.

Übereilt und wie es scheint ohne nachzudenken, kündigten beflissene Bildungspolitikerinnen Anfang 2020 von höchster Ebene aus den Künstlerischen Leiter Gregor Seyffert sowie Schulleiter Ralf Stabel – ihm sogar mehrmals – fristlos, zerstörten damit die Karrieren eines erfahrenen und erfolgreichen Leitungsduos und das engagierte Wirken der beiden, die Eliteschule zu einer herausragenden Ausbildungsinstitution für professionellen künstlerischen Nachwuchs in der Bundeshauptstadt auch auf internationaler Ebene bekannt zu machen. Hausverbote wurden erteilt. Monatelang ließ die Bildungsverwaltung nach Beweisen für die Kündigungen fahnden, bildete Kommissionen, die Verfehlungen ans Licht fördern sollten. Schüler, Lehrer, Absolventen und Eltern wurden aufgerufen, Negatives zu berichten, gern auch anonym. An positiven Berichten war man hingegen nicht interessiert.

Trotz intensiver Suche wurden keine Taten, keine Täter oder Opfer gefunden. Die für Unsummen erstellten Berichte einer eilig einberufenen Clearingstelle sowie einer Expertenkommission, in der man vergeblich nach Experten suchte, hat die Bildungsbehörde mittlerweile unzugänglich gemacht beziehungsweise vernichtet. Der Psychologieprofessor Udo Rudolph von der Technischen Universität Chemnitz hat die Berichte untersucht. In seiner Stellungnahme kommt der renommierte Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die methodischen Vorgehensweisen beider Gremien gar nicht geeignet waren, um ihrer Aufgabenstellung gerecht zu werden. Seine unabhängige Studie stellt fest, dass beide Kommissionen anderen Zielsetzungen folgten, als der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde: nämlich Kündigungsgründe zu finden. Nachlesen kann man Udo Rudolphs im Februar 2022 erschienene Stellungnahme auf den Webseiten der Initiative „Save the Dance“.

Gregor Seyffert und Ralf Stabel klagten gegen ihre Kündigungen. Das Land Berlin verlor alle Prozesse, versuchte in zweiter Instanz, verlor erneut, denn Beweise gab es nicht. Geschätzte Verschwendung von Steuergeldern für nutzlose Untersuchungen und Prozesskosten: 500.000 Euro bis eine Million. Das war 2021.

An dieser Stelle hätten die Verantwortlichen den Absturz der Schule verhindern können, indem sie zum Beispiel die einst erfolgreichen, ungekündigten Schulleiter wieder einsetzt und gemeinsam mit ihnen dringend notwendige Reformen umzusetzen begonnen hätte, deren Notwendigkeit Ralf Stabel in seiner Amtszeit immer wieder angeregt und eingefordert hatte, damit jedoch einst auf taube Ohren stieß. Alternativ hätte man andere, für diese Aufgaben qualifizierte Leute finden und einsetzen können.

Aber es lief anders: Vorübergehend übernahm ein bereits pensionierter Ingenieur die Leitung. Dann wurde interimsweise die bis jetzt amtierende, einstige stellvertretende Leiterin eines Oberstufenzentrums für Bürowirtschaft und Verwaltung auf den verantwortungsvollen Schulleiterposten gesetzt. Die Pädagogin hatte bis dahin keinen fachlichen Bezug zu Tanz oder Artistik, wie man es von einer Chefin einer solche Hochleistungs-Einrichtung erwarten darf. Die künstlerische Leitung der für die Staatlichen Ballettschule Berlin bekam, ebenfalls amtierend, eine Tanzpädagogin aus dem Schulkollegium in die Hände. Ein zum Scheitern verurteiltes Provisorium, das kurzsichtiger nicht hätte eingerichtet werden können, wie der Artikel von Torben Ibs zum Ausdruck bringt. Andere Presseberichte der letzten Tage, ausgelöst durch die unprofessionelle und nicht nachzuvollziehende Entscheidung der amtierenden Schulleiterin, die diesjährige Schulgala in der Deutschen Oper abzusagen, zeichnen erneut ein verzerrtes Bild und wiederholen gebetsmühlenartig unbelegte und unbewiesene Unterstellungen.

Am Nachmittag des 27. März 2024 verschickte die Presseabteilung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung eine Erklärung zur Rehabilitation von Gregor Seyffert. Darin heißt es, dass „die Verdienste, die Prof. Seyffert als Künstlerischer Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik erworben hat und die zur internationalen Ausstrahlung der Schule geführt haben, unbestritten“ sind. Die gegenüber Gregor Seyffert u.a. im Zusammenhang mit Kündigungen erhobenen Vorwürfe haben sich als gegenstandslos erwiesen. Eine Rückkehr an die Schule werde jedoch nicht erfolgen.

Gregor Seyffert wurde rehabilitiert und geht von der Schule. Für Ralf Stabel gibt es ein solches Schreiben bisher nicht. Das kann also bedeuten, er kommt an die Schule zurück, was einer Rehabilitierung gleichkäme und ein äußerst kluger Schachzug der neuen Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch wäre, die ihr Amt nach der letzten Berlin-Wahl vor einem Jahr angetreten hat. Mit dem Wechsel des Bildungsresorts von der SPD zur CDU und dem Amtsantritt der gebürtigen Dresdnerin verbanden sich viele Hoffnungen auf das Ende einer unfassbaren, von der Politik verantwortenden Lähmung im Prozess der Neugestaltung und Weiterentwicklung der Staatlichen Ballettschule Berlin.

Als Filmemacher beschäftige ich mich seit langer Zeit intensiv mit den teilweise absurden und unglaublichen Geschehnissen im Zusammenhang mit der Staatlichen Ballettschule Berlin. Eine umfangreiche, filmische Dokumentation ist in Planung, in der ich auch die Frage stellen möchte, ob mit einer der in diesem Artikel aufgezählten Ausbildungsinstitutionen in Stuttgart, Hamburg oder München ähnlich verfahren worden wäre? Führt tief verwurzeltes, stereotypes Denken möglicherweise dazu, dass Menschen, je nach Sozialisierung, glauben könnten: Das kann doch nicht wahr sein, dass der Osten und Ostdeutsche fähig sind, eine professionelle und zeitgemäße Tanzausbildung auf internationalem Niveau zu gestalten!

„Alle anderen großen Tanzausbildungen bekommen solche Galen übrigens problemlos hin, sei es in Stuttgart, Hamburg oder München“, betont Torben Ibs in seinem Beitrag auf tanznetz. Dass Torben Ibs, aufgewachsen in Elmshorn, jedoch lange ansässig in Leipzig und als Experte für ostdeutsche Kultur bekannt in seiner Aufzählung die jährlichen Galavorstellungen der Dresdner Palucca Hochschule für Tanz in der Semperoper vergisst, hat mich nachdenklich gestimmt.

Konrad Hirsch (Text & Fotos)
27.03.2024

Kommentare

  1. Voller Freude ging meine Tochter ab 2016 auf die staatliche Ballettschule in Berlin. Es war nicht immer einfach, es wurde viel gefordert. Wie es aber auch zu erwarten war von einer Eliteschule. Meine Tochter ist ziemlich schnell an den Anforderungen gewachsen, wurde souveräner und selbstbewusster. Es gab viele herausragende Lehrer an der Schule, die zwar streng waren aber fair. Nach drei Jahren hat meine Tochter die Schule verlassen aufgrund einer Lehrerin. Das möchte ich auch nicht verschweigen. Alle anderen Lehrer mochte meine Tochter sehr gerne.

    Ich finde es unmöglich, geradezu mörderisch, wie jetzt mit dieser renommierten Schule umgegangen wird. Ich hatte nie das Gefühl, dass Herr Stabel ein schlechter Schulleiter war. Vielmehr, dass er das richtige Händchen dafür hatte, dass die Schule nach außen bestens präsentiert wurde. Ich würde mir für die Schule wünschen, dass er an die Schule zurückkehren kann und diese wieder als Leiter führen kann. Dann müsste man sich allerdings eingestehen, dass gravierende Fehler gemacht wurden. Da es hier offensichtlich um persönliche Befindlichkeiten geht ist es wohl nicht möglich seitens der Verursacher sich die Fehler einzugestehen und das einzig richtige zu tun. Das wäre, der Schule wieder eine Lobby zu geben und die vollste Unterstützung seitens des Senats zukommen zu lassen bevor es gänzlich zu spät ist.

  2. Abgesehen davon, dass ein unsäglicher Machtkampf seitens der zuständigen Senatsverwaltung – unter Leitung der ehemaligen Senatorin – weder inhaltlich noch im Stil und Ton der Kommunikation gerechtfertigt war, fehlt für die Absage der diesjährigen Gala (eine für die jungen Tänzer und Tänzerinnen wichtige Präsentation) eine zumindest transparente und somit nachvollziehbare Begründung. Sollte dafür eine inkompetente Schulleitung eine Mitverantwortung tragen, ist es höchste Zeit, hier überfällige Personalentscheidungen zu treffen. Dazu sollte der jetzt verantwortlichen Senatorin nicht der Mut fehlen!

  3. Als ehemaliger Paluccaschüler und langjähriger erfolgreicher Leiter eines Berliner Ballettensembles, des EWE der NVA, habe ich den ruinösen, offenbar gesteuerten Umgang mit der BBS, mit Entsetzen und Unverständnis verfolgt. Obwohl vor 35 Jahren „ erfolgreich „ abgewickelt, habe ich mit Bewunderung und Stolz zur Kenntnis genommen, dass mit Seyffert / Stabel und einer ganzen Reihe hervorragender Ballettspezialisten eine weltweit anerkannte Entwicklung stattfand. Das war offensichtlich noch gewollt. Die Ablehnung von Allem, was einst erfolgreich war und weiter wuchs, das betrifft nicht nur das Ballettschaffen, wurde belächelt, diskriminiert, ihr Imaget besudelt und zerstört. Ich erwarte, dass das Verhalten maßgeblicher Stellen überprüft und geahndet wird, um einen Rest an Glaubwürdigkeit zu erhalten, bzw. wiederherzustellen. Das wenigstens ist man trotz Rehabilitation Seyffert und Stabel, dem gesamten Ballettschaffen und der Zukunft einer neuen Tänzergeneration schuldig.

  4. Der Artikel spricht für sich. Es bleibt nur zu sagen, dass seit der ungerechtfertigten Absetzung der Schulleitung Stabel/Seyffert nichts konstruktives mehr zustande kommt. Was soll junge Leute bitte noch motivieren an diese praxisferne Einrichtung zu kommen?!? Keine Auftritte mehr, keine Gastchoreografen mehr, keine Gastspielreisen mehr – keine Chancen Erfahrungen zu sammeln und von potentiellen Arbeitgebern gesehen zu werden mehr. Achso ja, und auch kein Bachelor mehr!
    Kurz: Gar nichts mehr!

    Die Staatliche Ballettschule Berlin ist von einer Institution, die für Exzellenz und Erfolg stand zu einem Trümmerhaufen geworden, der nur noch Schlagzeilen durch die Unfähigkeit der Berliner Politik und der von ihr eingesetzten 0-8-15 Schulleitung macht.

    Das ist eine Katastrophe und Schande!
    Man sollte das Erfolgs-Duo Stabel/Seyffert zurück holen und sie ihren Job machen lassen, damit Deutschland in der Kunstform Ballett nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

  5. Professor Seyffert ist rehabilitiert. Das freut mich erst einmal für ihn. Ich habe ihn noch als Tänzer auf der Bühne erlebt, später seine eindrucksvollen Inszenierungen in Dessau gesehen. Als kreativer Künstler und hervorragender Tänzer war er gut besetzt als künstlerischer Leiter der SBB. Er kommt nicht zurück. Schade. Aber was ist mit Professor Stabel? Er führte die Schule zum Erfolg, bis ihm die Berliner Politik kündigte – völlig grundlos, wie zu lesen war. Er wurde nicht rehabilitiert?

    1. Wir haben bezüglich der Rehabilitierung von Prof. Ralf Stabel bei der Berliner Senatsverwaltung für Bildung nachgefragt. Der Pressesprecher für Bildung, Martin Klesmann, teilte „Save the Dance“ am 27.03. mit: „Derzeit laufen hierzu noch Gespräche. Wir bitten um Verständnis, dass wir uns deshalb zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht dazu äußern. Die Herausforderungen, denen sich die Staatliche Ballettschule in den vergangenen Jahren gegenübersah, haben sich als äußerst vielschichtig und komplex erwiesen. Seit ihrem Amtsantritt hat Senatorin Katharina Günther-Wünsch sich diesem Sachverhalt und der weiteren Schulentwicklung zugewandt. Das Rehabilitationsschreiben für Herrn Prof. Seyffert markiert einen Schritt zur Lösung dieser Situation. In den kommenden Wochen sind weitere Gespräche geplant, um den Herausforderungen, denen die Staatliche Ballettschule trotz Fortschritten in der Schulentwicklung gegenübersteht, angemessen zu begegnen.“

  6. Welch ein Offenbarungseid der Schulleitung, des Senats, der Verantwortlichen in Berlin! Welch eine undurchschaubar Zerrüttung innerhalb der Einrichtung, womöglich bewusst herbeigeführt. Den Studenten wird der Höhepunkt des Studienjahres genommen, sie werden um diese, für ihre tänzerische Entwicklung und Entfaltung so wichtige Leistungsschau und Erfolgserlebnisse gebracht! Die Schulleiterin gehört SOFORT abgesetzt, so etwas Unprofessionelles zu Lasten der jungen hoffenungsvollen Künstler ist nicht hinnehmbar. Ich hoffe nur, dass sich Eltern und Angehörige sowie Tanzprofi auch überregional mit diesem Skandal befassen und ein deutliches Zeichen setzen. Nutzung aller legitimen Mittel sollte nur recht und billig sein! Das hätte es unter Team Stabel/Seyffert NIE gegeben. Man erhält den Eindruck, dass Berlin diese renommierte Bildungseinrichtung ruinieren möchte. Der Anfang wurde mit der rechtswidrigen Entlassung von Stabel/Seyffert gemacht- nun folgen weiter Einschläge. Es geht wohl um die Abwicklung einer erfolgreichen Ostinstitution. Traurig und skandalös!

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